Ökosysteme Mensch und Wald

Von Thomas Flammer

Ein artenreicher Wald stellt eine Lebensgemeinschaft mit vielen interagierenden «Akteuren» dar. Da sind Laub- und Nadelbäume, Farne, Moose, Insekten, Vögel, Säugetiere, Nager und unzählige Kleinstlebewesen. Zudem leben geschätzte 2,5 Billionen Mikroorganismen in einem Quadratmeter Waldboden: Bakterien, Pilze, Algen, Insekten und Weichtiere wie z.B. Würmer, Asseln und Schnecken. Alle aufzuzählen würden den Umfang dieses Artikels sprengen.

Ob Pflanze, Tier oder Mikroorganismus, sie alle haben ihre spezifischen Aufgaben. Z.B. bestäuben Insekten Pflanzen, Vögel verteilen Samen, Füchse und Eulen halten die Mäusepopulation in Schach usw.

Ein Mensch, ein Wald, ein Tier oder ein Gewässer stellen immer eine Lebensgemeinschaft dar, ein einzigartiges Ökosystem. Alle darin lebenden Organismen hängen voneinander ab. Das System funktioniert nur einwandfrei, wenn alles im Gleichgewicht ist. In unserem Darm z.B. leben über 1000 Arten von Bakterien. Gesamthaft beherbergen wir etwa 30 Billionen Mikroorganismen in unserem Körper (die 12-fache Menge eines m2 Waldbodens). Ein Grossteil davon beherbergt unser Darm, Darmflora genannt. Auch er ist ein einzigartiges Ökosystem und vergleichbar mit einer Art Software in unserem Körper.

Die Bakterien erfüllen ganz spezifische Aufgaben. Sie sorgen dafür, dass wir im Gleichgewicht sind und gesund bleiben, sie verstoffwechseln die Nahrung und schauen, dass unser Körper mit Energie versorgt wird und vieles mehr. Gibt es ein Ungleichgewicht in dieser Besiedlung, können wir sehr krank werden. Inzwischen weiss man, dass z.B. einseitige Nahrung und industriell verarbeitete Lebensmittel gewisse Darm- Bakterien-Arten aussterben lassen und wir dann immer anfälliger werden, krank zu werden. Leider ist bei vielen Menschen das individuelle «Ökosystem» bereits aus dem Gleichgewicht geraten, was unter dem Begriff «Zivilisationskrankheiten» zusammengefasst werden kann: 30% der Menschen leiden an irgendwelchen Allergien, 40% an Übergewicht und 20% an Diabetes.

Warum dieser Vergleich? Krankheiten, Stoffwechsel und Gleichgewicht beschränken sich nicht nur auf die Lebensform Mensch. Dieselben Gesetze gelten auch für den Wald.
Eine Waldgemeinschaft ist nicht nur der sichtbare Teil wie Bäume, Pflanzen und Tiere. Die eigentliche Energie- und Kreislaufzentrale liegt unter und knapp über dem Boden. Ohne Zersetzung würde sich das Laub, die Äste, Holzstrünke, umgekippte Baumstämme und alles andere organisches Material meterhoch türmen. Pilze spielen bei diesem Stoffwechsel eine sehr wichtige Rolle. Sie bauen oberirdisch und unterirdisch einen Grossteil des organischen Materials schnell und zuverlässig ab und versorgen so den Boden mit frischen Nährstoffen für neues Leben und neues Wachstum.

Netzwerk Wald und die Rolle der Pilze

Bäume und Pflanzen stehen in engem Kontakt mit den ihnen zugehörigen Pilzen. Sie bauen zusammen im Boden grossflächige, gemeinschaftlich genutzte Infrastrukturen auf und bilden die sogenannten Mykhorriza‐Netzwerke. So leben sie in Symbiose. Die Pilze liefern Wasser und erhalten dafür im Gegenzug Zucker.
Sie können auch miteinander kommunizieren. Für uns unsichtbare Mechanismen bilden ein verborgenes und ausgeklügeltes Kommunikationssystem, welches ebenfalls teilweise über diese Infrastruktur läuft und auch als «wood wide web» bezeichnet wird.
Es wird inzwischen viel geforscht, um diese geheimnisvollen Prozesse besser zu verstehen. Wie funktioniert die Kommunikation? Wie passiert es, dass Pflanzen und Bäume synchron miteinander blühen oder dass sie plötzlich giftiger werden, um sich gegen gewisse Fressfeinde zu verteidigen?
Das sind nur einige der Fragen, welchen die Wissenschaft heute nachgeht.

Kreislauf Wald und das Mykhorriza-Netzwerk

Zeichnung Monika Gugger

Diese Mykorrhiza-Netzwerke werden heute durch forstliche und menschliche Eingriffe immer mehr gestört. Organismen verschwinden, weil ihr Lebensraum vernichtet oder verändert wird. Dem Boden gehen dadurch Nährstoffe verloren. Zudem kann der Boden nicht mehr genügend Wasser speichern, weil tonnenschwere Vollernter den Boden verdichten und tiefe Narben hinterlassen. Deshalb vertrocknen die Böden. Invasive Neophyten nehmen Überhand und einst aufeinander abgestimmte Lebensgemeinschaften und Netzwerke gehen verloren. So nimmt das Artensterben seinen Lauf und je mehr «Zahnrädchen» ausfallen, desto anfälliger wird die Lebensgemeinschaft Wald.

Auf Stress reagiert der Wald, wie wir Menschen. Er wird krank und verliert immer mehr seine Fähigkeit sich zu regenerieren, weil die vielen kleinen Helferlein im Boden entweder verschwunden sind oder die Aufgaben nicht mehr bewältigen können.

Wurzeln mit feiner Mykhorriza umsponnen (Pilze am Wachsen)

Foto Thomas Flammer

Parallelen zwischen Wald und Mensch sind einander bezüglich Empfindsamkeit sehr ähnlich. Wie wir Menschen, kann er krank und anfällig werden, wenn sein Gleichgewicht gestört wird, was leider bereits an vielen Orten der Fall ist.

Es ist höchste Zeit dem entgegenzuwirken. Der Mensch braucht den Wald, der Wald braucht den Menschen nicht.
Mit diesem Beitrag hoffen wir, dem Leser und der Leserin eine neue Perspektive auf den Wald zu vermitteln, um diesen mit anderen Augen betrachten zu können. Weniger Monokulturen, mehr natürliche, wilde Wälder mit alten Bäumen und eine Waldpolitik, welche die Biodiversität viel energischer und nachhaltig fördert, wären dringend nötig. Denn dieser wichtige Lebensraum muss auf allen Ebenen mit noch viel mehr Engagement geschont, gefördert und respektiert werden.

Der Wald ist unsere Lebensquelle.

Weiterführende Literatur: